Wenn einmal von der Rüstungsindustrie in Ludwigsfelde die Rede ist, so denkt man zwangsläufig an die Daimler-Benz Flugmotorenwerke. Deutlich weniger Ludwigsfeldern dürfte dagegen bekannt sein, dass in unserer Stadt am Anfang der 40-er Jahre auch Raketenforschung betrieben wurde. Unser ehemaliges Vereinsmitglied, der inzwischen verstorbene Peter Riehmann hat dazu vor einiger Zeit einige Recherchen angestellt, die nun hier veröffentlicht werden sollen:
Nach gut 70 Jahren gibt es in einem Ludwigsfelder Gebiet, heute in unmittelbarer Nähe des Ludwigsfelder Dammes, dem ehemaligen Hagebaumarkt, im Areal zwischen der Eisenbahnstrecke Berlin und Halle/S., des Autobahnringes der A 10 und der Genshagener Straße, immer noch keine Klarheit, was sich da um 1943 befand. Es war ganz einfach alles „Geheim“ und bis zum heutigen Tag fanden sich keinerlei Zeitzeugen, die eine kompetente Aussage hätten machen können. Später geborene Ludwigsfelder wird das Gelände noch als wilder Abenteuerspielplatz unter den Namen „Wildy“ bzw. „Wildwest“ bekannt sein. Erreicht wurde zu seiner Zeit der abenteuerliche Spielplatz „bestückt“ mit Betontrümmern und einem Tümpel gefüllt mit Wasser in der Regel durch das Überschreiten der im Vergleich zu heute relativ wenig befahrenen Eisenbahngleise oder der noch weniger befahrenen Autobahn. Denkt man an diese Zeit zurück, so fällt mir ein, dass wir damals, so etwa 1954, mit dem Fahrrad zu den Ahrensdorfer Kiesgruben zum Baden gefahren sind. Natürlich, weil wir pfiffig waren auf der linken Seite, also dem Verkehr entgegen, damit man alles im Blick hatte.
Doch zurück zu dem bewussten Waldgebiet, hierüber schrieben schon verschiedene Autoren in der „Märkischen Allgemeinen Zeitung„ (MAZ). Ohne jedoch konkret das Geheimnis zu lüften. So am 18.09.1991 und nochmals etwa 10 Jahre später.
Bei den entsprechenden Recherchen fand ich im Ludwigsfelder Stadtarchiv einen Lageplan und diverse Bauscheine und Befreiungsbeschlüsse. Alles war mit dem legendären Stempel „Geheim“ versehen. Sinn und Zweck des Vorhabens blieben jedoch auch in diesen Unterlagen im Wesentlichen im unbekannten Bereich. So liegen Bauscheine für die Errichtung von einem „behelfsmäßigen Luftschutzbunker, eines behelfsmäßigen Pförtnerhauses und einer behelfsmäßigen Lagerbaracke“ vor. Die Befreiungsbescheinigungen dokumentieren die Befreiung von besonderen Auflagen, da „die Objekte mehr als 50 Meter von der Straße entfernt sind“.
Die Recherchen im Rheinmetall-Borsig Archiv im Internet ergaben keinerlei Aufklärung. Die telefonische Anfrage im Rheinmetall-Borsig Archiv in Düsseldorf mit einem Archivmitarbeiter (Der Name des Mitarbeiters ist dem Autor bekannt.) ergab im April 2004, dass die Versuchsanlage in Ludwigsfelde nicht unbekannt ist und nur einiges zur Sachlage aus dem Gedächtnis mitgeteilt werden kann. Die Begründung war: die relativ wenigen Unterlagen wurden vor einiger Zeit an das Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung in Koblenz abgegeben. Der Archivmitarbeiter berichtete mir aus seinem Gedächtnis heraus, „dass Berlin-Marienfelde (Rheinmetall – Borsig) in Ludwigsfelde ein Versuchsgelände bzw. Erprobungsgelände geplant hatte, die auch teilweise errichtet wurde, aber dann nicht mehr aktiv wurde, weil Verlagerungen nach Osten bzw. an die Ostsee (vermutlich Peenemünde) erfolgten. Er, der Archivmitarbeiter, erinnert sich, dass die Versuche zum Abwurf schwerer Bomben, Sprengkörper (schwere Abwurfköper), Treibsätze
usw. gemacht werden sollten. Für das Raketengeschoss „Rheintochter“ und ähnliche Versuche in horizontaler Richtung. Die Versuche in horizontaler Richtung sind wohl sehr zutreffend, denn alles was mit dem Abwurf in Zusammenhang gebracht werden würde, wäre die Gefährdung von der Reichsbahnstrecke und der Reichsautobahn, sowie der unmittelbaren Nähe der Ortslage Ludwigsfelde viel zu groß.
Ich bekam vom Rheinmetall-Borsig Archiv die Telefondurchwahl und den Namen der Ansprechpartnerin von der Wehrtechnischen Studiensammlung in Koblenz, doch sowohl die telefonische als auch die schriftliche Anfrage blieben ergebnislos. Das war der Wissensstand 2004/05.
Am 22.April 1945 wurde Ludwigsfelde kampflos von der Roten Armee besetzt. Die Angehörigen der Roten Armee waren relativ überrascht, mit Ludwigsfelde nicht nur nach Aussage ihres Kartenmaterials ein Dörflein vorzufinden, denn die Ortslage Ludwigsfelde war deutlich mehr als nur ein Dorf. Praktisch zeitgleich verließ die damalige Werksleitung des Daimler-Benz-Flugmotorenwerkes Genshagen das Werk mit der eilig zusammengestellten Fahrzeugkolonne durch die Nordwache in Richtung Hamburg, welches zur damaligen Zeit schon von der Britischen Armee (British Army) besetzt war. Für die Besetzung Ludwigsfeldes war nicht nur das schon erwähnte Flugmotorenwerk interessant, sondern ebenso das Rheinmetall-Borsig Versuchsgelände im Dreieck der Reichsbahnstrecke, der Reichsautobahn und der Genshagener Straße.
Nun wurde in den ersten Nachkriegsjahren beginnend von 1945, von sowjetischen Kommissionen Berichte erstellt, so auch unter der Leitung von General-Major des Ingenieur – Artilleristischen Dienstes A.I. Sokolovs über die Erforschung der deutschen Raketenwaffen. Dieser Bericht steht unter der Überschrift: „Die Aufgabe besonderer staatlicher Wichtigkeit“ mit dem Untertitel „Aus der Geschichte der Raketenkernwaffenerschaffung und der Raketentruppen der strategischen Bestimmung (1945 -1959)“. Die ehemaligen sowjetischen Archive haben sich mit der politischen Wende, dem Zusammenbruch der Sowjetunion, geöffnet. So wird manches Dunkle der deutschen Geschichte mit Licht erfüllt. So bekommt auch das ehemalige und heute unscheinbare Versuchsgelände der Rheinmetall-Borsig Licht.
Auf der Seite 96 des sowjetischen Berichtes erfahren wir dann nach 68 Jahren, was in diesem Wald wirklich geschah.
Zwei große Werke der Firma „Rheinmetall-Borsig“ beschäftigten sich mit der Entwicklung und Produktion von Geschossen für das Heer und die Kriegsmarine. Das Werk in Berlin – Marienfelde beschäftigte sich mit der Entwicklung und Konstruktion Raketenbomben und Geschossen für die Luftstreitkräfte der Wehrmacht. Im Werk befanden sich ein großes Konstruktionsbüro und beträchtliche Versuchsproduktionen.
Die Hauptthemen des Werkes in Berlin – Marienfelde bestanden aus den nachfolgenden Objekten:
- Panzerbrechende Raketenbombe PC 1000 RS
- Panzerbrechende Raketenbombe PC 1800 RS
- Die auf dem Wasser springende Kugelraketenbombe (SB 800 RS)
- Raketenfliegergeschoss R 500 BS
- Raketenfliegergeschoss SC 100 RS
- Startraketen für Flugzeuge
- Flakraketengeschoss „Rheintochter“
- Flakraketengeschoss „Rheinbote“ (160 — 180 km)
- 100 mm Panzerabwehrgranatwerfer mit 1000 Meter
Die Probeversuche wurden auf der Versuchsstelle Ludwigsfelde (12 km vom Werk in Berlin – Marienfelde) unternommen. In dieser Versuchsstelle gab es einen Betonstand für Verbrennung, Kühl- und Wärmeanlagen (mit einer Kühlmaschine), eine Trocknungsanlage, eine mechanische und eine Ausrüstungswerkstatt und Lagerräume für Pulver und Geschosse.
Eine Erweiterung der Versuchsanlage wurde 1943 vom zuständigen Luftgaukommando III abgelehnt, weil die Nähe zur Reichshauptstadt durch die immer mehr zunehmenden Luftangriffe nicht nur für diese Versuchsanlage gefährlich werden könnte, sondern darüber hinaus auch für das zwar relativ gut im Wald versteckte Daimler-Benz-Flugmotorenwerk Genshagen.
Die Geschichte ging auch in der Zeit der sowjetischen Besatzungszone und der jungen DDR weiter. Nach dem Krieg betrieb dann auf den Betonflächen ein Köhler seine Holzkohlemeiler.
In der Aktenlage findet sich eine Baubeschreibung des noch vorhandenen Sprengstoffbunkers vom 16.06.1947. Diese wird fast drei Jahre später, also im Frühjahr 1950 zur Grundlage einer Besichtigung und erneuten Zustandsbeschreibung. Der Anlass ist recht profan, man möchte in den „Bunkerresten“ Sprengstoff für die Stubbenrodung einlagern.
Im Frühjahr 1950 findet vorsorglich noch einmal eine Besichtigung der Bunkerüberreste statt, die nicht gerade ermutigend klingt. Jedenfalls hätte der Sprengstoffbunker wieder befüllt werden können, doch ob dieses geschah, ist nicht bekannt. Alsbald mutierte das Gelände zum wilden Abenteuerspielplatz und zum ausgiebigen Pilze suchen.
In der heutigen Zeit führt dort ganz einfach der Ostverbinder mit dem Ludwigsfelder Damm entlang…
Peter Riehmann
In den Brandenburger Blättern sind 2011 in einem Beitrag von Günter Nagel noch einige technische Details zur Entwicklung der Rakete veröffentlicht worden. Nachfolgend ein Auszug daraus:
…
Nachdem die Reichswehrführung 1929 beschlossen hatte, die Pulverrakete auf ihre Waffenfähigkeit hin zu überprüfen und schon sechs Jahre später mit handfesten Erfolgen aufwarten konnte, erkannte auch die Rheinmetall-Borsig AG den Zug der Zeit. Dieses Unternehmen war einer der größten deutschen Rüstungsproduzenten und begann mit eigenen Experimenten zu Raketen, die ausschließlich durch Feststoffe („Pulver“) angetrieben wurden. Der Vorteil dieser Technik: Die Raketen waren sofort einsatzbereit, mussten vor dem Start nicht durch eine komplizierte Technik betankt werden und sollten einfacher gebaut sein als Flüssigkeitsraketen.
Nachdem die Rheinmetall-Borsig AG 1938 ihren Sitz von Düsseldorf nach Berlin verlegt hatte, forcierte sie ihre Raketenversuche: und entwickelte verschiedene Raketentypen: Bordraketen für die Jagdfliegerbewaffnung, Starthilfen für Flugzeuge und Lastensegler, Antriebe für schwere Panzerbomben gegen Seeziele und Raketen-Wurfgranaten. Erprobt wurden sie zumeist auf dem firmeneigenen Schießplatz Unterlüss (nordöstlich von Celle).
Wenige Monate nach dem Überfall auf die Sowjetunion und der Ausweitung des Krieges forderten die Militärs noch wirkungsvollere Feststoffraketen. Die Luftwaffe legte dafür ein Sonderprogramm auf, wofür in Berlin-Marienfelde ein Entwicklungswerk entstand. Dort arbeitete Rheinmetall-Borsig vor allem an zwei neuartigen Waffenarten. Das war zunächst eine Flugabwehrrakete mit dem Codenamen „Rheintochter“, bestimmt zur Bomberbekämpfung. Sie sollte etwa 100 Kilogramm Sprengstoff bis auf eine Hohe von 9000 Metern schießen und so den Einflug von Bomberpulks stören.
Noch ehrgeiziger war das Projekt einer „Fernzielrakete“ mit der Bezeichnung „Rheinbote“. Vier Stufen einer reichlich elf Meter langen Feststoffrakete mit einem Gesamtgewicht von 600 Kilogramm sollten etwa 40 Kilogramm Sprengstoff bis zu 230 Kilometer weit befördern.
Die Erprobung der Entwicklungsmuster solch massiger Raketen-Körper war in Berlin-Marienfelde nicht möglich. Dafür wurde in dem Wald bei Ludwigsfelde ab 1942 ein Testgelände aufgebaut. um die weltweit ersten mehrstufigen Pulverraketen zu prüfen.
Die Raketenexperten untersuchten dort die Antriebsaggregate für „Rheinbote“ und „Rheintochter“. Der „scharfe Schuss“ wurde vom pommerschen Leba aus getestet. Zielgebiet war die 170 Kilometer entfernte Insel Bornholm. Im April 1943 wurden die ersten drei Versuchsexemplare des „Rheinboten“ in Leba hohen Militärs vorgeführt. Die Herren waren vom Startgetöse und den Reichweiten von über 100 Kilometern sehr angetan – wollten aber noch mehr. Der „Rheinbote“ sollte weiter fliegen und möglichst schnell im „Fernkampf gegen England“ zum Einsatz kommen.
Mit großer Intensität wurden die Versuche am Ludwigsfelder „Brennstand“ fortgesetzt und in Kummersdorf Fahrversuche mit den Transport- und Startwagen der Rakete unternommen. Parallel dazu gab es weitere Schießübungen in Leba, die Mitte November 1944 ihren Höhepunkt erreichten. Eine größere Gruppe Generale und anderer hoher Offiziere der Artillerie, des Heereswaffenamtes und der Waffen-SS besichtigte die gefechtsmäßig ausgebaute Feuerstellung einer „Rheinboten“-Batterie, die schließlich eine Salve von vier Raketen abfeuerte. Drei davon schlugen auf Bornholm ein. Nun sollte die Serienproduktion beginnen.
Den militärischen Einsatz übernahm die neu gebildete. 460 Mann starke „Heeresartillerieabteilung 709“, deren Offiziere sich mit der Herstellung in Marienfelde vertraut machten. Von Dezember 1944 bis Januar 1945 schoss die Wehrmacht etwa 70 „Rheinboten“ auf Antwerpen ab, die jedoch ihr Ziel, den Hafen, verfehlten. Das blieb der einzige nennenswerte Angriff mit dieser Waffe. Angesichts der nur 25 Kilogramm Sprengstoff im Raketenkopf war der betriebene Aufwand – allein die Startstufe verbrauchte 245 Kilogramm Pulver – viel zu hoch.
Das gilt auch für die in Ludwigsfelde getestete zweistufige Feststoff-Rakete „Rheintochter“. Die Techniker und Ingenieure stellten die Versuche mit ihr im Januar 1945 ein.
…
Günter Nagel
Quellen:
Peter Riehmann – Die „Rheintochter“ in Ludwigsfelde (nicht veröffentlicht)
Günter Nagel – Schuss in die Wolken (Ausz.), veröffentl. in „Brandenburger Blätter“ Nr. 221 vom 16.12.2011